Buchvorstellung: „Große Weite Innen“ von Dorothea Stockmar Verlust und Trauer als Möglichkeit zu innerem Wachstum

Dorothea Stockmar - hinter dem HorizontSich in Worten so auszudrücken, dass der andere eine Ahnung davon bekommen kann, was einen bewegt und umtreibt, ist eine Kunst. Die Gedanken und Gefühle niederzuschreiben, die einen nicht mehr loslassen, wenn man sein Kind oder einen anderen geliebten Menschen verloren hat, erfordert Mut. Dorothea Stockmar zeigt großen Mut und tut beides. Damit berührt sie ganz tief. Das reicht ihr aber nicht und so verdeutlicht sie, was sie fühlt, indem sie ihre Trauer um ihren verstorbenen Sohn auch in Bildern ausdrückt. Eines dieser wunderbaren Bilder hängt in meiner Praxis und verbreitet dort durch lebendige Farben Schönheit, Zauber und Zerbrechlichkeit.

Jetzt zum 7. Todestag ihres Sohnes Cajus, ist ein weiteres Buch von ihr erschienen: „Thea Große Weite Innen“ beim Querbeet Verlag. Und wie kann es anders sein, bei einem Buch, geschrieben von einer mutigen Frau? Es macht Mut. Es macht Mut in einer Weise, wie ich es selten im Bereich der Trauer erlebt habe. Mut sich den wirklich schwierigen Themen und Gefühlen zu stellen und zwar immer wieder. Als Trauerbegleiterin bin ich ständig auf der Suche nach Texten und Büchern, die ich Trauernden ans gebeutelte Herz legen kann, damit sie eine Vorstellung davon bekommen, wie sie mit ihrer Trauer umgehen können. Steht man doch sehr oft hilflos vor diesem gigantischen Schmerz, der einen aufzufressen droht. Vielen Menschen geht es so wie Thea aus dem Buch, wenn sie einen geliebten Menschen verloren haben: In Liebe verbunden zu sein, bedeutet auf einmal mit dem Tod verbunden zu sein.

Thea spürt, wie der Tod des Sohnes, Stillstand und Erstarrung in die Familie zu bringen droht und stellt sich ihm mit all ihrer Lebendigkeit und Kraft entgegen. So schafft sie es, dass ihre Trauer und die ihrer Familie, lebendig wird und so auch Nathan seinen festen, geborgenen Platz in der Familie behält. Er kann zwar nicht mehr zu Aufgaben wie den Müll raus zu tragen heran gezogen werden, aber als Gesprächspartner und Gegenüber bleibt er erhalten.

In klaren nachvollziehbaren Sätzen führt uns Dorothea durch das Leben von Thea und durch ihre schlimmste Zeit. Zuweilen berührt sie den Leser damit ganz tief und doch gelingt es ihr auch auszudrücken, was eigentlich kaum auszudrücken ist. Sie macht verständlich, wie sich Trauer anfühlt und was sie mit uns machen kann. Dabei klagt sie nicht. Sie gibt ihren Umgang damit wieder und wird so zu einer Art Trauer-Pionierin. Sie legt mit ihrem Buch einen Trampelpfad an, den andere Trauernde als Spur nutzen können, um ihren eigenen Weg durch ihre Trauer zu finden. Denn irgendwann in ihrer Zeit der Trauer und der Sehnsucht nach ihrem Sohn kann sie eine Entscheidung treffen: „Doch bevor ich gehe, bleibe ich.“ Jeder, der einmal einen geliebten Menschen verloren hat, versteht, wie viel Schmerz, Verzweiflung, Mut und Arbeit – Trauerarbeit – dieser Satz beinhaltet.

Frau Stockmar schreibt in ihrem Buch: „Große Weite Innen stellt sich für uns oft erst dann ein, wenn wir bereit sind, überlieferte Ansichten und Meinungen in Frage zu stellen.“ Dies trifft auch auf den gesellschaftlichen Umgang mit Trauer zu. Damit Menschen, die einen geliebten Menschen verlieren von ihrem hilflosen Umfeld nicht mehr alleine gelassen werden, müssen wir die überlieferten Ansichten und Meinungen über Trauer und Tod in Frage stellen. Auch oder gerade in Zeiten, in denen wir nicht betroffen sind. Zum Einen damit wir im Ernstfall ein wenig besser vorbereitet sind, zum Anderen um für die da sein zu können, die uns in ihren verzweifeltsten Stunden brauchen und um selbst eine Große Weite Innen zu erfahren.

In ihrer Zeit als Praktikantin in einem Hospiz in Japan erlebt sie die Gepflogenheit, bei der Begrüßung sich gegenseitig vor dem anderen Menschen und seinem Schicksal zu verneigen als sehr achtsam und wertschätzend. Ich wünsche mir, dass sich auch bei uns immer mehr Menschen vor dem Schicksal anderer verneigen, statt vor ihm davon zu laufen.

Die nächste Lesung von Dorothea Stockmar ist am Sonntag, 13. Dezember 2015 um 19 Uhr in Berlin Charlottenburg: Hier geht es zu den Details. Das ist am Gedenktag für alle verstorbene Kinder. Um 19 Uhr werden Kerzen ins Fenster gestellt, um sich an sie zu erinnern. Ich werde auch dort sein.

Das Bild ist von Dorothea Stockmar.

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