Zwischen Tolstoi und Simone de Beauvoir

WP_20160512_18_55_32_ProSeit gestern  ist meinem Buch „Das erste Trauerjahr“ Teil der Ausstellung „Die Magie des Lesens“ im Museum Neukölln. Der Gedanke hinter der Ausstellung ist, wieder in Erinnerung zu rufen, warum Bücher wichtig sind, wie sie uns prägen, durchs Leben begleiten und wie sie uns in Welten versetzen, die wir sonst nie betreten hätten. Allein in Neukölln leben geschätzte 24.000 Analphabeten, denen aus verschiedenen Gründen der Zugang zu Büchern verstellt ist. Daher wurden 24 Neuköllner gebeten, fünf ihrer Lieblingsbücher für die Ausstellung zur Verfügung zu stellen und zu jedem dieser Bücher den persönlichen Bezug dazu und die Wichtigkeit in ihrem Leben aufzuzeigen.

Mitarbeiter der Ausstellung kamen zu den TeilnehmerInnen nach Hause, interviewten sie und machten wunderbare Texte aus deren Begründungen, die man allesamt im Ausstellungskatalog nachlesen kann. „Das erste Trauerjahr“ wurde von Dorothea Stockmar ausgewählt. Sie kam als kleines Mädchen nach der Flucht aus Schlesien nach Neukölln, lebte dort einige Jahre und ging um die Ecke der Ausstellungsräume des Museums Neukölln zur Schule. Oben links im Foto könnt ihr eines ihrer wenigen Bücher sehen, das die Familie auf der Flucht dabei hatte und welches Dorothea durch ihre Kindheit  begleitete: Es ist das Buch „Deutsche Märchen“ vom Cigaretten Bilderdienst von 1937. Als deutsches Kulturgut von Hitler unterstützt erfreute sich dieses Buch damals großer Beliebtheit, denn es kostete nur 1 Mark und man konnte die gesammelten Zigarettenbildchen dort einkleben. Da Dorotheas Vater starb als sie erst drei Jahre alt war und sie sich kaum an ihn erinnern konnte, war speziell dieses Buch sehr wichtig für sie, denn der Vater hatte ihr und den anderen Geschwistern daraus vorgelesen und vermutlich auch die Bildchen eingeklebt. Mit diesem Buch begann Dorotheas Liebe zu Büchern zu denen auch „Das Alter“ von Simone de Beauvoir, „Auferstehung“ von Lew Tolstoi und das kleine Gedichtbüchlein „Gäbe es keine Kirschblüten… Tanga aus 1300 Jahren“ gehört.

Der Text im Ausstellungskatalog ab Seite 86 über Dorothea endet mit der Passage: „Dorothea hat sich in ihrem Leben und ihrem Lesen viel mit den zentralen Fragen der menschlichen Existenz beschäftigt. Auf diese trifft man unweigerlich zwischen den Zeilen aller ihrer fünf Bücher. Verlust und Vergänglichkeit als Herausforderungen auf der einen Seite sowie Mitgefühl und Menschlichkeit als Antworten auf der anderen formen den Lesestoff, den sie bewegt.“

Dorothea Stockmar ist wie ich Trauerbegleiterin. Als ihr Sohn Cajus 2008 mit 17 Jahren durch einen Unfall stirbt, beginnt ein langer und schwerer Weg der Trauer für sie und ihre Familie. Sie verarbeitet ihre Gefühle in Bildern die unheimlich anrührend und aussagekräftig anmuten und schreibt Bücher über ihre Trauer durch die sie uns an ihrem Weg teilhaben lässt. So durfte ich auch Teil ihres Weges werden, der auch mein Weg ist. Über mein Buch sagt sie: „Wenn es dieses Buch damals schon gegeben hätte, dann wären die anderen vielleicht mit mir anders umgegangen. Dann hätten sie mich besser verstanden.“ Über Dorothea könnt ihr hier mehr erfahren.

Die Ausstellung ist unglaublich gut vorbereitet und durchdacht. Man merkt, wenn man dort ist, dass die Menschen, die diese Ausstellung zu verantworten haben, Bücher und Menschen lieben. Die Texte der Teilnehmer aus dem Ausstellungskatalog wurden auch vertont und Dorotheas Text könnt ihr hier nachhören. Besser aber noch: Geht selbst hin und genießt diese gelungene Ausstellung mit wunderbaren alten Büchern, die für jeden einzelnen Teilnehmer eine große Bedeutung erlangt haben. Die Ausstellung ist noch bis Ende Dezember 2016 zu sehen und liegt in einer zauberhaften Umgebung, dem Gutshof Britz, gleich neben dem Schloss Britz. Dem Museumsleiter Dr. Udo Gösswald und seinem Team ist dort etwas ganz Besonderes gelungen. Nicht umsonst heißt die Ausstellung „Die Magie des Lesens“.

 

2 Kommentare zu “Zwischen Tolstoi und Simone de Beauvoir

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